Nervensystem regulieren
Stress gehört zum Leben. Unser Körper ist wunderbar darauf eingestellt, mit Herausforderungen umzugehen – vorausgesetzt, er findet danach wieder zur Ruhe zurück. Ein gut reguliertes, autonomes Nervensystem hilft dir genau dabei: Es sorgt für die richtige Balance zwischen Aktivierung und Entspannung.
Schön und gut, aber was bedeutet das eigentlich genau? Und wie gelingt mir diese Balance im Alltag? Die Antworten auf diese und weitere Fragen findest du in diesem Text von Laura Trinkler.
Laura Trinkler ist Psychologin und bietet psychologische Online-Beratungen für Menschen an, die sich einen gesünderen Umgang mit Stress und mehr Resilienz wünschen.
Was passiert im Körper bei Stress?
Unser autonomes Nervensystem besteht aus zwei Hauptsystemen: dem sympathischen Nervensystem (unser «Gaspedal») und dem parasympathischen Nervensystem (unsere «Bremse»).
- Der Sympathikus wird aktiv, wenn Gefahr droht oder du unter Druck stehst. Er gibt dir Energie, um zu kämpfen, zu fliehen oder schnell zu handeln – ein sinnvoller Mechanismus!
- Der Parasympathikus wird aktiv, wenn die Gefahr vorbei ist. Er hilft dir dabei, wieder zur Ruhe zu kommen und dich zu erholen: Puls und Atmung verlangsamen sich, die Verdauung läuft wieder, du fühlst dich sicher.
Dieses flexible Hin- und Herwechseln zwischen Anspannung und Entspannung ist entscheidend für einen gut funktionierenden Körper und Geist. Es geht also nicht darum, immer entspannt zu sein, sondern darum, der Situation entsprechend reagieren zu können – mal mit voller Energie, mal in tiefer Ruhe.
Wann ist das Nervensystem aus dem Gleichgewicht?
Manchmal verliert unser Nervensystem diese gesunde Flexibilität – zum Beispiel durch chronischen Stress oder traumatische Erfahrungen. Dann zeigen sich erste Anzeichen einer Dysregulation: Meist ist der Sympathikus überaktiviert, was sich in einer ständigen Grundanspannung zeigt, die selbst in ruhigen Momenten nicht verschwindet. Diese Grundanspannung kann auch dazu führen, dass man bereits ab kleinen Herausforderungen überreagiert, weil das Nervensystem ständig in Alarmbereitschaft ist.
Doch manchmal passiert auch das Gegenteil: Statt dauernder Anspannung fühlt man sich wie «abgeschaltet» – antriebslos, leer oder innerlich weit weg. Auch das ist eine Reaktion des Nervensystems auf Überforderung. In solchen Momenten wird der Teil des Parasympathikus aktiv, der für den Totstell-Reflex zuständig ist – der sogenannte dorsale Vagus. Gleichzeitig ist der Sympathikus, der normalerweise für Energie und Handlungsfähigkeit sorgt, kaum noch aktiv. Ziel des Körpers ist es, Energie zu sparen, Überwältigung zu vermeiden und einfach nur zu überleben. Evolutionär ist dieser Zustand sinnvoll – bei Tieren kann er das Leben retten. Beim Menschen führt er allerdings oft zu lähmenden Zuständen wie Erschöpfung, Leere oder innerer Abwesenheit – besonders, wenn er über längere Zeit anhält.
Langfristig kann ein dysreguliertes Nervensystem zu psychischen und körperlichen Beschwerden führen – bis hin zu Burnout oder chronischen Erkrankungen.
Typische Symptome bei einem dysregulierten Nervensystem
Körperlich:
- Verspannungen
- Chronische Müdigkeit, trotz ausreichend Schlaf
- Verdauungsprobleme (Blähungen, Durchfall, Sodbrennen)
- Schlafstörungen
- Geschwächtes Immunsystem
- Chronische Schmerzen
Psychisch:
- Rastlosigkeit, innere Unruhe, ständiges Gedankenkarussell
- Gereiztheit oder Stimmungsschwankungen
- Antriebslosigkeit
- Konzentrationsschwierigkeiten
- Grübeln
- Bedürfnis nach Stimulation: z. B. ständiges Scrollen am Handy, weil Ruhe sich unangenehm anfühlt
Wie kommt es zu einer Dysregulation des Nervensystems?
Ein Nervensystem wird nicht von heute auf morgen dysreguliert. Oft erkennen Betroffene rückblickend, dass sie zu viele Stressphasen mit zu weniger oder gar keiner Ruhephase dazwischen durchlebt haben. Der Körper musste also immer unter einer hohen Sympathikus-Aktivierung funktionieren – und hat dabei verlernt, in den Ruhemodus zurückzufinden.
Neben anhaltendem Alltagsstress können auch Traumata – insbesondere in der frühen Kindheit – eine Rolle spielen. Kinder sind auf Co-Regulation durch Bezugspersonen angewiesen. Fehlt diese, kann sich ein Gefühl von dauerhafter Unsicherheit im Nervensystem festsetzen. Aber auch Schocktraumata (z. B. durch Unfälle) können das Gleichgewicht stören.
Was du tun kannst, um dein Nervensystem zu regulieren
Die gute Nachricht: Unser Nervensystem ist lernfähig. Mit gezielter Selbstfürsorge und Achtsamkeit kannst du die Balance zwischen Aktivierung und Entspannung wieder stärken.
Hier ein paar wirkungsvolle Schritte:
- Präsenz üben: Nimm dir ein bis zwei Minuten Zeit, um dich bewusst umzusehen: Was siehst du? Was hörst du? Wie fühlt sich der Boden unter deinen Füssen an? Diese kleinen Achtsamkeitsübungen helfen deinem Gehirn, im Hier und Jetzt anzukommen.
- Regelmässige Bewegung: Ein Spaziergang in der Natur, eine Runde Schwimmen oder 10 Minuten leichtes Stretching am Abend – all das hilft, angesammelte Anspannung abzubauen. Befindest du dich in einer Erstarrungs-Phase? Dann beginnst du am besten mit kleinen Bewegungen wie einem kurzen Ausschütteln des Körpers.
- Atmung bewusst lenken: Lege eine Hand auf deinen Bauch und atme langsam durch die Nase ein, sodass sich deine Hand hebt. Dann langsam durch den Mund wieder ausatmen. Diese Bauchatmung aktiviert den beruhigenden Teil des Nervensystems und kann schon nach wenigen Atemzügen einen spürbaren Effekt haben – besonders in angespannten Momenten.
- Rhythmus und Struktur: Stehe möglichst zur gleichen Zeit auf, plane feste Pausen ein, iss in Ruhe – und wenn möglich, beende deinen Tag mit einem kleinen Abendritual, z. B. einem warmen Fussbad oder einem Dankbarkeitsgedanken. Unser Nervensystem liebt Vorhersehbarkeit – sie vermittelt Kontrolle und beruhigt.
- Kälteimpulse nutzen: Kaltes Wasser auf Gesicht, Nacken oder Handgelenken kann das autonome Nervensystem aktivieren und für einen frischen Energieschub sorgen. Dieser sanfte Reiz hilft, wenn du dich erschöpft und «erstarrt» fühlst, indem er den Kreislauf anregt. Gleichzeitig kann er bei Überaktivierung des Nervensystems helfen, indem er die Balance zwischen Aktivierung und Beruhigung unterstützt. Achte dabei darauf, wie dein Körper reagiert, und setze Kälteimpulse behutsam ein.
Was tun, wenn Selbstregulation schwerfällt?
Vielleicht hast du schon einiges ausprobiert – und trotzdem gelingt es dir nicht, zur Ruhe zu kommen. Oder du fühlst dich so antriebslos, dass selbst kleine Schritte zu viel erscheinen. Das kann viele Gründe haben: vielleicht ist dein Nervensystem chronisch überfordert, vielleicht fehlt dir Sicherheit im Alltag, vielleicht auch einfach Unterstützung.
Wichtig ist: Du musst das nicht allein schaffen.
Gerade in herausfordernden Lebensphasen kann es sinnvoll sein, sich begleiten zu lassen – etwa durch eine psychologische Beratung. Auf psgz.ch findest du weiterführende Informationen, Anlaufstellen und konkrete Angebote in deiner Region.
Fazit
Ein reguliertes Nervensystem ist wie ein fein abgestimmter Motor – er springt an, wenn du ihn brauchst, und geht in den Leerlauf, wenn es Zeit zum Ausruhen ist. Wenn du das Gefühl hast, ständig auf dem Gaspedal zu stehen, lohnt es sich hinzuschauen – nicht mit Druck, sondern mit Mitgefühl für dich selbst.
Über die Autorin
Laura Trinkler ist Psychologin und bietet psychologische Online-Beratungen mit Fokus auf Stressbewältigung, gesunde Gewohnheiten und Resilienz an.
Weitere Informationen findest du unter www.lauratrinkler.ch